Rechercheförderung – Mode oder Mehrwert?

Oliver_Zihlman„In idealen Redaktionen braucht es keinen Recherche-Desk“, sagte Oliver Zihlmann. „Dort hat jeder Journalist die Gelegenheit, vertieft zu recherchieren, wenn er eine spannende Geschichte riecht.“ In Zeiten des Spardrucks aber habe die Schaffung eines gemeinsamen Rechercheteams von SonntagsZeitung und Le Matin Dimanche zum Jahresbeginn 2012 ein starkes Zeichen des Tamedia-Verlegers dargestellt. Der Recherche-Desk sei als Brücke über den Röstigraben sehr wertvoll.

Andrea_BleicherUm eben jenen Blick in die Romandie beneide sie Oliver Zihlmann, sagte Andrea Bleicher. Doch auch ohne Recherche-Desk sei Ringier gut aufgestellt: „Wir beschäftigen 23 Reporter. Deren Kernaufgabe ist die Recherche.“ Im Vergleich zum achtköpfigen Team Zihlmanns weise Ringier einen Pluspunkt auf, sagte die stellvertretende Chefredakteurin des Blicks mit einem Augenzwinkern: „Der grosse Vorteil des Blick-Newsrooms ist, dass der Chefredakteur nicht weiss, woran ein Journalist gerade arbeitet.“ Gute Geschichten flögen einem nicht wie gebratene Tauben in den Mund, sagte Bleicher. „Recherchieren tut weh. Es ist zeitintensiv und man muss Leuten auf die Füsse treten. Man exponiert sich und muss einstecken können. Nicht jeder ist dafür geschaffen.“

Jens_WeinreichDer deutsche Journalist und Blogger Jens Weinreich brachte den Blick von aussen ein. Vor den rund 70 Anwesenden sagte Weinreich, er wundere sich gelegentlich über die Schweizer Berichterstattung über Korruption im Sport. „Ihr arbeitet in der Schweiz an der Quelle, im Land, wo all die Sportorganisationen ihren Sitz haben, die immer wieder in den Verdacht der Korruption kommen. Und doch recherchiert ihr kaum je zu einem sportpolitischen Thema.“ Man wisse ja, sagte Weinreich, dass etwa der Blick und die Fifa alles andere als Feindschaft pflege. „Da sitzt man eher an einem Tisch und zecht zusammen.“

 „Die Leserschaft interessiert sich nicht für die Anzahl Zitierungen“

Weinreich wies darauf hin, dass der Recherche in der Schweiz auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten vergleichsmässig hohe Aufmerksamkeit zuteil werde. „Dass ein Journalist ohne Garantie auf Gelingen mal einen Monat für eine Geschichte abgestellt wird, wie es beim Recherche-Desk der Tamedia passiert, gibt es in Deutschland höchstens noch beim Spiegel.“ In Deutschland sei die Situation verheerend. Das Rechercheteam der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, die „traditionell ja wahrlich nicht für Journalismus bekannt ist“, liefere beispielsweise ausgezeichnete Arbeit. Dennoch sei es ständig der Gefahr ausgesetzt, aus wirtschaftlichen Gründen abgebaut zu werden.

Unterschiedliche Meinungen vertraten Oliver Zihlmann und Andrea Bleicher, wie der Erfolg von Rechercheteams zu messen sei. „Wir schauen auf die Zitierungen, ihr bloss auf die Leserzahlen“, sagte der Recherche-Desk-Leiter vorwurfsvoll. Die Leserschaft interessiere sich nicht für Zitierungen in anderen Medien, konterte Bleicher. „Wenn die SDA eine Geschichte nicht aufnimmt, obwohl man überzeugt ist, dass sie ein Knaller ist, kann man eine halbe Stunde traurig sein. Aber danach muss man diese Enttäuschung abhaken und weitermachen.“ [Dennis Bühler]

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